Ingrid Loschek

Aus: BeTRACHTungen – Trachten zwischen Wissenschaft und Pflege. Hg. Bayerischer Landesverein für Heimatpflege. München 2008. ISBN 9783931754433

                                          

Tracht – Ein Beispiel von Tradition und Innovation

 

Die bäuerlich-ländliche Kleidung als eine eigenständige Bekleidungsform, die sogenannte Volkstracht, wird in der neueren Trachtenforschung eindeutig als ein im 19. Jahrhundert entstandenes Konstrukt dargestellt.[1] Die Volkstracht weist sowohl regional spezifische, als auch städtisch-modische Details auf. So sehr heute Tracht und Mode als Gegensatz erscheinen mögen, haben sie vieles gemeinsam. Abgesehen von ihrer vestimentären Geschichte liegt ihre Gemeinsamkeit im Verhalten des Menschen an sich. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuation und Anpassung, dem der Mensch andauernd ausgesetzt ist, ist die Basis für jede Veränderung des menschlichen Äußeren, zu der auch die Bekleidung zählt. Bezogen auf die Tracht liegt dieser der Wille des individuellen Menschen zur Anpassung an einen gemeinsamen Bekleidungsstils zugrunde. Umgekehrt fördert der homogene Bekleidungscharakter der Tracht den Identitätsanspruch der Gruppe und damit deren Abgrenzung. Bei der städtisch-bürgerlichen beziehungsweise überregionalen Mode dagegen überwiegt die Individuation der Einzelperson vor dem Anspruch der Gruppendarstellung.

 

Das Spannungsverhältnis zwischen Individuation und Anpassung entsteht durch die Konfrontation mit der Umwelt, der nur die „gelebte“ Tracht ausgesetzt ist. Damit wird nur an diese der Anspruch einer ständigen Erneuerung gestellt, wodurch sie nicht einer Erstarrung und damit dem Aussterben erliegt. Beispiele belegen, dass nicht mehr getragene Trachten, zumal Festtagstrachten, eine erstarrte Zeremonialkleidung ergeben. Der Erhalt der Tracht, wie sie sich heute präsentiert, basiert auf Erneuerung. Erneuerung bedeutet Leben, sowohl physisch, als auch kulturell. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt sieht in Innovationen „die bis heute und darüber hinaus andauernde Evolution“ und „allein deshalb sollten wir nicht wollen, dass es das Neue nicht gibt“. [2]

 

Erneuerung

Die „gelebte Tracht“ kann nur erhalten bleiben, wenn sie einer Erneuerung zugängig bleibt. Diese Erneuerung wird auch zukünftig in einem beschränkten und zeitlich versetzten Rahmen zur modischen Bekleidung erfolgen. Jedoch ist es notwendig, dass modische Impulse im Sinne der eigenen Bekleidungstradition valorisiert und in die Kleidersprache der Tracht umgesetzt beziehungsweise für diese neu interpretiert werden. Der Sinn der Innovation soll Kultur relevant sein. Der Zweck einer Innovation „liegt nicht in der Rebellion gegen die kulturelle Tradition (…..)“, sondern in der strategischen „Kombination aus positiver und negativer Anpassung an die Tradition“ (…), „mit dem Ziel, das Signifikant des Gegenwärtigen zu erzeugen.“ (Boris Groys[3]).



[1] Zander-Seidel, Jutta: Kleiderwechsel. Kleidung 18.-20. Jahrhundert. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2002, S. 75ff

[2] Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des Menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. München 1984. S. 823.

[3] Diese Aussage bezog der Philosoph Boris Groys auf das Kunstwerk, wobei ich die Erweiterung auf Innovation schlechthin für durchaus legitim halte.