Ingrid Loschek

aus „Neue Kleider?!“ Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung „Hannover goes Fashion“. Ein Projekt des Museums August Kestner und der Fachhochschule Hannover im Museum August Kestner, 2008.  

Mode

Gestalten – Inszenieren - Interpretieren

 

 

Das neuzeitliche Denken setzt Kontemplation als das Beobachten und Nachsinnen über den Kosmos und das menschliche Dasein mit „Nichtstun“ gleich, denn Denken und Handeln sind von einem wie immer gearteten Perspektivismus beherrscht.[i] Selbst das Sinnieren des Philosophen muss zumindest im Verfassen von Schriften greifbar werden. Die kontemplative Einstellung geriet so in Abhängigkeit von der Kreativität. [ii] Der Untergang der Kontemplation ist der Preis des Aufstiegs der Kreativität, andererseits setzt Kreativität Kontemplation voraus. „Allerdings liefert die Kontemplation jetzt nicht mehr das Wissen um das, was tatsächlich ist, sondern eine Vision dessen, was sein soll.“[iii] Innovatives Design, auch in der Mode kennzeichnet diesen antizipatorischen Anspruch. „Die Opposition zwischen Kreativität und unkreativer, ‚entfremdeter‘, monotoner Arbeit hat in der Neuzeit den traditionellen Gegensatz zwischen Kontemplation und Aktion ersetzt.“[iv] In der Mode hat sie diesen Ersatz im Massendesign gefunden, die dem Kommerz und nicht der Vision dient. In dieser Konstellation ist der Begriff der Kreativität in die Krise geraten, nicht nur in der Mode, sondern in der Kunst allgemein. Die kreative Arbeit unterscheidet sich von „der Arbeit“ schlechthin. „Jeder will nämlich kreativ sein und niemand will eine „entfremdete“ Arbeit leisten.“[v] ‚Jeder‘ will Designer und nicht Schneider sein.

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Der Vision des Möglichen durch die Zerstörung des Tatsächlichen stellen sich Avantgardisten wie Rei Kawakubo, Hussein Chalayan oder Viktor & Rolf. Ihre Arbeitsweisen sind durchdringt von Kontemplation, sowohl von Kontemplation im Denken, als auch im Handwerken. Die neuzeitliche Kontemplation verschmilzt mit dem originären Experimentieren. Die Perspektive ist die Kreation des Noch-nie-Dagewesenen. Kawakubo schuf  vestimentäre Überformungen, die weder als ein übersteigertes Erotiksymbol, noch als eine Stilisierung des Körpers im Kulturvergleich vorhanden sind. Den Überformungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie Reifrock und Cul de Paris, liegen soziale Intentionen zugrunde, während Kawakubos Intention eine intellektuelle und ästhetische Distinktion fokussiert.

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Die Avantgarde ist keine zeitliche, sondern eine inhaltliche Positionierung ästhetischer Experimente aus der Gegenwart heraus, um Zukünftiges vorzubereiten. Die Attraktivität der Avantgarde liegt darin, Konventionen in Frage zu stellen, Traditionen zu verlassen und neue, wegweisende Entwicklungen anzustoßen. Avantgarde ist die Vorhut einer neuen Wirklichkeit. Sie ist ein Möglichkeitsraum, der die Wirklichkeit verändern kann. Ihre Innovationen brechen  mit allen Programmen, ihrem Formenwillen ist nichts zu absurd.

Durch den heute gängigen Begriff „Designermode“ wurde jedoch die extreme Positionierung der Avantgarde kommerzialisiert, sie dem Konsum überlassen, was eigentlich als Angewandte Kunst rezipiert werden sollte. Avantgarde ist eine Bewegung, die einen gesellschaftlichen Neuanfang mit künstlerischen Utopien versucht. Jedoch ist in westlichen Kulturen die Skepsis gegenüber Utopien größer denn je, so dass sich ‚die Gesellschaft‘ mit „Designermode“ anstelle von „Avantgarde“ zufrieden gibt. 

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Die experimentelle Kleidung der Avantgarde lässt sich nicht eins zu eins auf Massenware übertragen. Im Vereinfachen von Schnitten, Verzierungen, Mustern und der Qualität der Stoffe lassen sich Annäherungen erzielen. Die Distinktion zwischen High Fashion und Street Fashion  bestärkt das System der Mode, dessen ureigenstes Prinzip die Vervielfältigung ist. Durch die Kopie erhält das Original den Status des Authentischen und damit seine Daseinsberechtigung, denn: Identität vermittelt sich nur als Differenz zu anderen beziehungsweise aus der Beobachtung von außen.[vi] Jedoch ist – zumindest in der Modebranche – Kopieren keine Einbahnstraße. Die Ideen der Designer werden von Massenherstellern kopiert; die Ideen aus dem Alltag, seien es Jugendmoden oder ethnische Kleidung, werden von Designern kopiert beziehungsweise re-designed.

 

 

 



[i] Kontemplation (lateinisch, aus con: „zusammen“ und templum: „Beobachtungsraum“) wurde zu einer analytischen Methode zum Erkennen des Inneren und der dadurch erreichbaren allumfassenden Erkenntnis des Äußeren. Nicht zu verwechseln mit Meditation, die das Erreichen des Nichts, der Leere, dem Nirvana zum Ziel hat.

[ii]  Die Perspektive des Fortschritts ist eine ureigentlich christliche Auffassung.

Der Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys schreibt in seiner Abhandlung „Jenseits der Kreativität“ über die notwendige und grundlegende Beziehung von Arbeit und Kontemplation. Bezogen auf die Neuzeit, schreibt er: „Die reine Kontemplation erscheint jetzt als gemeinschaftsfeindlich, als parasitär, und weckt regelrechten Haß.“ In: Hans Thomas (Hg.): Chancen einer Kultur der Arbeit – Abschied von der Entfremdung. Herford 1990. S. 149-170.

[iii] Ebd. S. 150.

[iv] Ebd. S. 149.

[v] Ebd. S. 156.

[vi] Loschek. S. 191f.